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Die Begründungen der Jury
Kategorie 1: Malerei, Grafik, Zeichnung: Wolfgang und Petra Eberhard | Deutscher Wald, 2021
Die Jury hat sich nach eingehender Diskussion für das Werk »Deutscher Wald« von Wolfgang und Petra Eberhardt entschieden. Das Werk greift einen traditionsreichen, mächtigen und immer noch wirksamen Mythos auf, den deutschen Wald. So wurde der Wald in der Zeit der Deutschen Romantik als »Sehnsuchtsort« des deutschen Volkes verstanden und eng mit der deutschen Nation verbunden. Diese nationale Bindung des Waldes wurde u.a. auch von den Nationalsozialisten weitergeführt, noch verstärkt und in ihre Rassenideologie eingefügt. Die Künstler haben es geschafft, den Form-Inhaltsbezug eindrucksvoll umzusetzen. Die von ihnen gewählte, auf die dunkle deutsche Vergangenheit verweisende Frakturschrift für den Begriff »Deutscher Wald« setzt sich mit ihrem Weiß stark von dem dunkelgrünen Untergrund ab und kontrastiert mit den schwarz getönten, auf der Bildfläche verteilten Eichenblättern. Die Bildelemente und ihre kompositionelle Verbindung wirken auf die Betrachterin und den Betrachter bedrohlich und unheilvoll. Das kritische Werk »Deutscher Wald« verweist ganz aktuell auch auf die mythisch grundierten Natur- und Lebensschutz-Vorstellungen einiger Gruppierungen, die einem rational reflektierten Naturbezug entgegenstehen.
Kategorie 2: Plastik, Skulptur, Installation: Nessi Nezilla | Trust, 2022
Formal ist es ein Wandaltar mit einer Haupttafel und zwei beweglichen Flügeln aus schwarz gefärbtem Holz, darauf befestigten verbogenen Metallplatten mit Fronten aus Fotomontagen. Zudem wurde das Werk mit blutigen Farbspritzern und Feuer behandelt, was die Schwere und Düsterheit der Arbeit noch verstärkt. Thematisch bezieht sich das Objekt auf den Mythos des Glaubens und die Macht des Vertrauens, denn »Trust« heißt »Vertrauen«. Im krassen Gegensatz dazu sehen wir auf den Flügel Ted Bundy, ein Inbegriff der Misogynie und des Sadismus und Marc Dutroux, einen Pädokriminellen – beide wie Kardinäle bekleidet. In der Mitte: Charles Manson – der als Massenmörder berühmt wurde – im päpstlichen Gewand. Diese Darstellung spiegelt die katholische Kirche und stellt ihren Glauben infrage. Die Spiegelung funktioniert allerdings auch umgekehrt, da es im sozialen Raum nichts gibt, was ausschließlich für sich selbst steht. Die Jury betrachtet das Werk auch als Anstoß zur Überprüfung der Mythen, denen wir alle durch Massenmedien ausgesetzt sind, wie beispielsweise dem Charisma von Führungspersönlichkeiten oder dem Helter Skelter-Narrativ.
Kategorie 3: Fotografie, Medienkunst: Jürgen Baumann | Die Regensburger Domspatzen, 2013
Die Macht des Mythos hat die Aufklärung über physische, psychische und sexuelle Gewalt in kirchlichen Institutionen lange verhindert. Jürgen Baumanns Fotoserie »Die Regensburger Domspatzen« bringt dies drastisch auf den Punkt, indem er sich ausschließlich auf die Münder der Sänger konzentriert. Symbolisierten Knabenchöre früher die vorgebliche Reinheit und Unschuld des Glaubens, stehen sie heute vermehrt für die Schuld von Kirchenmännern, die sich an Kindern vergangen haben. Dabei agiert Baumann geschickt auf doppeltem Boden: Schein und Sein, Klerus und Eros, Kirchenkantate und Oralsex fließen unvermittelt ineinander – Inkonsistenzen, die nicht nur den Mythos eines deutschen »Elite-Chors« mit 1000-jähriger Geschichte entzaubern, sondern auch den Mythos einer vermeintlich »heiligen« Institution, die sich noch immer als »Hüterin der Moral« aufspielt.
Der Publikumspreis
Den Publikumspreis gewann Dr. Ulrike Hüppeler für ihr Werk „Out of Paradise“. Die Gewinnerin über ihre Arbeit: Der mächtigste Mythos der Menschheit – die Vertreibung aus dem Paradies. Eva naschte vom Baum der Erkenntnis und verführte den arglosen Adam. Vorbei war es mit der Glückseligkeit. Erkenntnis ist des Teufels! Der Mann soll fortan herrschen über die Frau, sie büßt in Gefolgschaft der Eva bis heute. Mit der patriarchalen Auslegung des Paradiesmythos prägt die autoritäre Kirche das gesellschaftliche Denken und das Frauenbild seit Jahrhunderten.
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Themenimpuls
Wir werden in eine Welt der Zeichen, Symbole und der Bedeutungen geboren. Diese strukturieren unsere Erfahrungen. Sie sind unser Zugang zur Welt. Eine sehr spezielle Verdichtung all dieser Elemente erfolgt im Mythos. Der meint so viel wie Legende, Mär oder – in seiner originären Lesart – Erzählung. Diese Erzählungen begegnen uns in vielgestaltiger Form. Ihnen allen gemein ist, dass sie Deutungshoheit über Welt und Weltereignisse beanspruchen. Und sie ihr vermeintliches Wissen wirkmächtig durch blumige Narrative vermitteln – nicht durch überprüfbare Fakten. Sinnstiftung qua Glauben heißt hier die oberste Direktive – ein Bollwerk gegen Rationalität und Aufklärung.
Da sind religiöse Schöpfungsmythen, die apodiktisch letzte Wahrheiten verkünden, völkische Mythen, die Ursprungsgemeinschaften beschwören und politische Mythen, die in Krisenzeiten stabilisierend wirken sollen. Nahezu täglich sind wir konfrontiert mit Verschwörungserzählungen und den mythischen Narrationen in Kunst, Kultur und Warenwelt, die die kapitalistische Verwertungsdynamik befeuern. Sei es durch Marken- und Personenkult oder durch die Fetischisierung von Kunstwerken. Nahezu omnipräsent durchwirken diese Sinngebilde die ideologische Matrix der Gesellschaft. So auch das Fühlen und Denken des Menschen. Der ist ein von Mythen besetztes Wesen. War es schon immer, weil ihm die elementare Neigung zu Mythos und Glauben als evolutionärer Vorteil in die Wiege gelegt ist. Bereits in frühen Gesellschaften beförderten Sinn stiftende Erzählungen Kooperation und Zusammenhalt, entfaltete der Mythos seine normative Kraft durch moralische Ordnungs- und Handlungsmuster. Und seit jeher dienen Mythen der Legitimation von Vorteil, Macht und Herrschaft.
»Die Macht des Mythos«. Wir laden Sie dazu ein, sich kritisch mit diesem facettenreichen Thema auseinanderzusetzen und ihm bildnerischen und gestalterischen Ausdruck zu verleihen. Ein spannendes Unterfangen. Wir wünschen gutes Gelingen!
Die Jury des DA! Art-Award 2022
v.l.n.r.: Giulia Silberberger, Expertin in Sachen Verschwörungsideologien, Fake News und ideologischem Missbrauch | Michael Kortländer, Künstler und Leiter der Großen Kunstausstellung NRW Düsseldorf | Menia, Künstlerin | Prof. Dr. Peter Tepe, Künstler, Philosoph, Herausgeber | Dr. Dr. h.c. Michael Schmidt-Salomon, Philosoph, Schriftsteller, Sozialwissenschaftler
Grußwort von Schirmherr Mark Benecke
Eine gute Geschichte ist unschlagbar. Wenn der tote Papst Johannes Paul II. wegen seines sich nicht zersetzten Blutes schneller heiliggesprochen wird, prüft niemand, ob nicht jedes Blut in einem luftdichten Beutel oder Röhrchen mit Bluterhaltungsmittel sich nicht zersetzt. Dass Gottes Liebe mächtiger als Fäulnis ist und dem Tod so ein Schnippchen schlägt, ist aber einfach cooler als chemische Tatsachen. Vor allem, wenn jemand diesen nun bewiesen mächtigen Gott gut findet und an seinen Honigtropfen saugen darf. Dass die Grundannahme nicht stimmt, spielt naturgemäß keine Rolle.
Während des Covid-19-Irrsinns untersuchten wir in unserem Labor massenhaft angebliche Lebewesen im Patient:innen-Blut, in deren Nasenschleim und auf Test-Stäbchen. Auf den Stäbchen (zum Beispiel) waren es Textil-Fasern – unter dem Mikroskop deutlich zu erkennen. Diese bewegten sich wegen der Abstoßungskräfte tatsächlich manchmal ein wenig hin und her. Die Auftraggeber:innen blieben dabei, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Die für jede:n prüfbare Tatsache, dass alle Wohnungen weltweit voller Textil-Fasern sind, diese dann aber als harmlos gelten und nicht als Morgellonen, Würmer oder Wesen aus einer anderen Welt, war egal. Spannender waren Gruselwesen. Kann ich verstehen. Es stimmt halt nur nicht.
Ähnlich lief es mit den durch Impfen angeblich magnetisch gewordenen Kindern. Obwohl ich demonstrierte, dass nichtmagnetische Gegenstände genau so gut haften, ein Kompass seinen Ausschlag nicht verändert und Babypuder auf die Haut den angeblichen Magnetismus »wegzaubert«, blieben doch »Zweifel«. Welche? Na, dass das Kind vielleicht trotzdem magnetisch ist.
Gegen jeden Beweis, gegen das eigene Erleben, gegen die Messung anzuglauben, das nervenkitzelt. Das macht einen Menschen besonders und ist eine spannende Geschichte. Und die kann sich wie bei Geisterwesen, Untoten und Märchen durch Generationen ziehen. Live erlebt habe ich diese Weitergabe bei der Frau, die sich in Belgien selbst entzündet hatte. Sie war unsere Auftraggeberin, knallsachlich und wollte nur eins: dass sie oder ihre Familie nicht nochmals entflammen. Nach mehrjährigen Versuchen haben wir das Rätsel mit den Besonderheiten ihres Einzelfalles geknackt: Sie hatte eine weiße „Muschel“ aufgesammelt, die aus angeschwemmtem, brennbarem Material einer Kriegs-Bombe bestand. Die Familie war von da an vorsichtiger, der Fall wurde breit veröffentlicht. Doch schon wenige Jahre später hörte ich von einer geheimnisvollen Frau, die sich in Belgien entzündet haben sollte. Der gruselige Teil der Geschichte hatte sich eingeprägt und wurde weitergetragen, die Auflösung nicht.
Ich bin nicht unglücklich, dass sich solche kraftvollen Quatsch-Erzählungen halten. Sonst hätte ich nie untersucht, warum angebliche Vampire tatsächlich nach deren Ausgrabung so aussehen, wie es seit dem Jahr 1732 beschrieben wird: Von bakteriellen Gasen aus dem Mund gedrücktes Blut und vieles mehr — also wegen der von uns so genannten Fäulnis-Erscheinungen. Es stimmte, wie in den anderen, oben geschilderten Fällen die Beobachtung, nur deren Auslegung nicht.
Im Laufe der Jahrzehnte bin ich daher mild geworden gegen Märchen und Mythen. Wo andere sich ärgern, nehme ich sie als Aufforderung, Versuche anzustellen und es dann noch besser zu erklären.
Es freut mich, dass Sie es ähnlich sehen und sich der Sache künstlerisch nähern. Ohne Fehlauslegungen der Menschen würden aufklärerischen Kunstwerke nicht entstehen. Und das wäre doch schade.
Dr. Mark Benecke
Kriminalbiologe
Leipzig, Januar 2021